Areal

 

Joachim Brohm

Ein fotografisches Portrait 1992 – 2002


Man riecht noch das Öl, hört die Arbeiter lärmen. Vorbei. Da aufs Dach, dort durch den Zaun wagt sich der Photograph, um die verlorene Heimat zu halten. Ein Fremdling, der chronisch wiederkehrt, über zehn Jahre lang. Kein Wachhund da, kein Verbot? Das in den 50er Jahren gewachsene, 20 Fußballfelder große Industriegebiet, das einer komfortablen Wohn- und Dienstleistungsstadt weichen soll, begleitet Joachim Brohm im Übergang. Wir schreiben die Zwischenära von Glaszersplitterung und Unkrautgedeihung. Eine friedliche Revolution in Zeitlupe. Die kleine Tankstelle mit Wellblechdach, die vordem ein Treff der Belegschaften war, ist weg irgendwann. Bodenangleichung zugunsten von Musterhäusern mit Autobahnanschluss. Brohm folgt der Transformation vom Industriefriedhof zur „Parkstadt“ in aller Stille. Er observiert den Prozess des Umpflügens scheu, doch konzentriert und aus den Blickwinkeln des Verborgenen. Bretterverhau, verwaiste Wohncontainer, herrenlose Kabeltrommeln. Brohm nähert sich dem Areal keineswegs melancholisch. Er geht Entdecken. Und findet in den Halbruinen blühende Biotope flexibler Zwischennutzer. Die vermeintlich rechtsfreie Landschaft ist besetzt von obskuren Nieschengeschäftler - wurde die Autohalde zum Abholmarkt? Industrie-Slum! Gemütlich richtet man sich im Provisorischen ein. Und dann, allzu schnell, ist alles weg und vorbei: Mit Bagger, Kran und Zuversicht greifen die Innovatoren ein. Bald ist die Einfahrt planiert und Kinder spielen. Wo war gleich die Kantinenbaracke gewesen? Fragt jemand? Danach, wo die Reifenberge jetzt sind und die Fabrikhallen? Wohin ist der Sperrmüll? Die Spuren sind verschwunden. Wider den Wandel hält Brohm die Beständigkeit fest. Mit jedem Bild des Verfalls beleben sich die Szenerien durch unser Wissen um den Mief von Werkstätten und Abhollager, die jeder mal kennenlernte. Da ist die Bewegung hin zum baldigen Wohnglück, und dann die Erinnerung an die Plastikstühle auf Kiesschotter nahe Parkplatz, wo wir uns einst zur Fensterrahmen-Lebensplanung eingefunden hatten. Brohm sitzt reflektionsfrei dazwischen. Mit einfacher Kleinbildkamera gelingen ihm Bilder wie in Aspik, Augenblicke des Luftanhaltens und der Kontemplation. Das Areal ist geblieben, allein der Boden ist vergesslich. Das Gebiet wird neutral und geschichtlich irrelevant werden. Nie wird etwas gewesen sein. Mag es vor dem Globalen Geschichte gegeben haben, hier war sie nur Brennstofflager, Heizungsbau, Düngemittelfabrik und ganz viel Service fürs Auto. Nicht der Rede wert. Jetzt rosten die Wracks, die Pumpanlagen sind stromlos. Brohm führt uns, so Urs Stahel, in eine „Fallgrube ohne Boden“ (S. 118). Er zeigt uns ein halbes Jahrhundert Industrie-, Architektur- und Lebensgeschichte, für die kaum je ein Sinn geschärft war. In “Kray” konzentrierte sich Brohm 1995 auf diverse unwirtliche und unwirkliche Anti-Areale, in “Areal” analysiert er in äußerster Stringenz einen einzigen Ort als blinden Fleck. Ob als Industriegebiet, Übergangsterrain oder Wohnstadt, Regina Bittner zufolge ist das Areal als typischer „Nicht-Ort“ ein „universeller Durchgangsraum mit hoher Effizienz“ (S. 133). “Ausgewählte Ausstattung” und “innovative Architektur mit viel Liebe zum Detail”, so das Programm. Zurück blätternd lastet die Zukunftsplanung über dem Gelände wie ein Damoklesschwert. Und die Qualitätssteigerung durch moderne Platten mit Giebel “vor grüner Kulisse” zeugt vom vorgeblichen Sieg über die Entropie – vorgeblich, da die Umtopfung Energie verschlingt und die Frage nach dem Gedächtnis offen bleibt: Brohms Photographien sind der lokalen Orientierung und der Ortsverpflichtung enthoben. Die Geflechte der Ansichten geben keinerlei Überblick. “Die Dinge erzählen keine Geschichte ihres Gebrauchs, die Rückschlüsse zulassen könnten. Stattdessen Signaturen von Raum und Zeit” (Bittner S. 135). Trotz Wiedererkennungen ein Dickicht. So gelingt es Brohm, das Authentische zum Universellen zu steigern. Seine geschichtliche Dokumentation gemahnt an die Unmöglichkeit, Gewesenes zu halten. Seine Bilder sind ´short cuts´ im Puzzle der Vergänglichkeit, und nur der Boden wird ´wissen´, ob nicht doch Kontaminationen vorliegen. Fest steht: die Arbeiter, die einst hier klotzten und schwitzten, sie reisten weiter wie mit einem Zirkus. Irgendwohin. Doch Brohms zeit- und ortsneutrale Mikrostudie macht bereits absehbar, dass auch die in die neue Heimat gezogenen Kinder, die nun das Pflasterareal um die neuen Baumpötte erforschen, abwandern werden, wenn die Gebäude verbraucht sind. Man wird Bagger holen, Gerümpel hinterlassen und vergessen.


Matthias Groll



erschienen bei European Photography Nr. 73/74, 2003